Psychische Belastungen bei Mitarbeitenden in der Coronakrise

Ein Artikel von Dr. Matthias Conradt über Diagnosen und Lebensschieflagen

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Durch die corona-bedingte starke mediale Präsenz von psychischen Erkrankungen gewinnt man den Eindruck, dass psychische Störungen häufiger geworden sind. Doch ist das wirklich so? Andere Gründe wie bspw. eine Senkung der diagnostischen Schwellen, die Aufhellung eines Dunkelfelds oder veränderte Sichtweisen der Betroffenen könnten für ein erhöhtes Aufkommen mitverantwortlich sein.
In diesem Artikel prüft Dr. Conradt diese Thesen und stellt systemische Lösungen vor.

 

Häufung oder Pathologisierung des Alltags?

Die Corona-Pandemie scheint die Inzidenz von psychischen Störungen in allen Lebensbereichen zu steigern: Kinder, Eltern, Mitarbeitende im Home Office und/oder in Betrieben – die psychischen Belastungen waren nicht nur in den Praxen der Psychotherapeuten sondern auch und vor allem medial allgegenwärtig. Durch die starke Medienpräsenz und die damit einhergehende wachsende Akzeptanz von psychischen Erkrankungen kann der Eindruck entstehen, dass psychische Störungen häufiger vorkommen und auch bereitwilliger angenommen werden. Möglicherweise haben sich aber auch die diagnostischen Gewohnheiten im Umgang mit psychischen Belastungen im Sinne einer Absenkung der diagnostischen Schwelle verändert. Die Folge: Immer häufiger werden normale Lebensschieflagen pathologisiert und zu psychischen Erkrankungen erklärt. Das Risiko einer „Pathologisierung des Alltaglebens“ steht hierbei einem wirklichen Anstieg von psychischen Erkrankungen entgegen.

 

Homeoffice – Glück vs. Krankmacher?

Die mediale Berichterstattung während der Corona-Pandemie suggeriert teilweise, dass annährend 100 % der Beschäftigten im Homeoffice arbeiten. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung waren es 2020 max. 1/4 der Beschäftigten. Das psychische Wohlbefinden im Homeoffice wurde stark polarisiert dargestellt, entweder als neue Glückseligkeit oder aber als Krankmacher. Auf der einen Seite wurden die neu gewonnenen Freiheiten herausgestellt, auf der anderen Seite die psychischen Belastungen wie beispielsweise die sich auflösende Grenze zwischen Privat- und Berufsleben. Im TK-Gesundheitsreport berichteten 42 % der Befragten davon, im Lockdown stark beziehungsweise sehr stark belastet zu sein. Als Hauptbelastungsfaktoren wurden hier fehlende persönliche Kontakte, Angst vor einer Corona-Erkrankung bei sich selbst und anderen, Schließung der Schulen und Kitas sowie mehr Stress am Arbeitsplatz genannt. Hier sind also existentielle Lebensbereiche betroffen, und es ist gut nachvollziehbar, dass während der Corona Pandemie deutlich mehr Menschen von psychischen Belastungen und/oder von psychischen Störungen berichten.

 

Psychische Störungen häufiger?

Zunächst müssen wir uns klar machen, dass wir uns in einem Megatrend befinden: Die Fehlzeiten der Diagnosegruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ steigt zum Beispiel. laut dem Gesundheitsreport der TK 2021 seit gut 15 Jahren konstant an. Die Fehlzeiten haben sich in dieser Zeit verdoppelt. Wenn man sich die Häufigkeit der vergebenen Diagnosen der letzten 15 Jahre anschaut, wird das Bild des Anstiegs bestätigt. Im Report Psychotherapie 2020 der DPtV sind prozentuale Zuwächse von 20 bis 40 % in unterschiedlichen Altersgruppen verzeichnet. Das heißt auch unabhängig von der Corona-Pandemie war mit einer höheren Inzidenz als in den Vorjahren zu rechnen.

 

Verstärker Corona-Pandemie

Während der Corona-Pandemie wurde dieser Trend allerdings verstärkt. Große Krankenkassen melden einen starken Anstieg an psychischen Erkrankungen, sowohl bei Erwachsenen wie auch bei Kindern und Jugendlichen. Eine aktuelle Metastudie von Kunzler et al (2021), die 104 wissenschaftliche Studien zum Thema psychische Belastung vor und während der Coronapandemie untersuchte, bestätigte die von den Krankenkassen gemachten Mitteilungen. In der Allgemeinbevölkerung waren weitaus häufiger Symptome von Angst und Depression während der Corona-Pandemie zu beobachten als vor der Pandemie. Die mediale Berichterstattung einer höheren Inzidenz psychischer Belastungen und Störungen werden von empirischen Daten also weitestgehend bestätigt.

 

Höhere Sensibilisierung?

Die Frage, ob psychische Erkrankungen häufiger vorkommen, kann natürlich auch mit anderen Faktoren zumindest miterklärt werden: Eine höhere Sensibilität in der Bevölkerung, bessere Diagnostik, veränderte diagnostische Gewohnheiten und ein insgesamt offenerer gesellschaftlicher Umgang mit persönlichen Belastungen können mitverantwortlich für diese Entwicklung sein. Auch ist es denkbar, dass sich die diagnostische Schwelle bei den im Gesundheitswesen tätigen Akteuren abgesenkt hat und damit mehr Menschen eine Diagnose „psychische Erkrankung“ bekommen.

 

Eine Medaille mit zwei Seiten

Zum einen muss man die Frage aufwerfen, ob die Prävalenz psychischer Störungen in den letzten 15 Jahren so stark angestiegen ist wie die Datenlage dies nahelegt. Zum anderen zeigt der dokumentierte starke Zuwachs an Diagnosen psychischer Störungen, dass sich etwas Grundlegendes verändert hat und dass mehr Menschen von psychischen Belastungen.

Eine psychische Belastung ist jedoch nicht immer eine psychische Störung. Allerdings hat sich während der Pandemie, das zeigt die Studienlage deutlich, die „Heatmap“ der Symptomatik deutlich in Richtung Erkrankung verschoben. Diese Verschärfung von Alltagsschieflagen für die Betroffenen kann man gut anhand der berichteten Belastungsfaktoren erklären, die in der TK-Umfrage genannt wurden. Hier wurden existentielle Lebensbereiche genannt, und gerade für Menschen, die vorpandemisch mit Belastungen zu kämpfen hatten, kann zum Beispiel eine erlebte soziale Isolation durch Kontaktbeschränkungen eine subklinisch vorhandene Symptomatik schnell verschärfen.

 

Was tun?

Wir müssen davon ausgehen, dass zwischen den Alltagsbelastungen der Menschen und der Gesundheitsversorgung eine strukturelle Lücke klafft. Eine schnell verfügbare, professionelle und zeitgemäße Abklärung diesseits einer Diagnosestellung, die Orientierung und Soforthilfe bietet, die Alltagsschieflagen einordnen kann und von den Betroffenen als hilfreich empfunden wird, könnte ein Vielzahl von Therapieanfragen hinfällig machen. Auch wenn eine psychische Erkrankung festgestellt wird, so ist es in der Folge sehr entscheidend, diese genau zu erklären und genügend Zeit in die Psychoedukation zu investieren. Je schneller das passiert, desto größer ist die Chance auf eine rasche Besserung. Genauso wichtig ist es, die Menschen, die eine Behandlung benötigen, proaktiv bei der Wahl der geeigneten Therapieform zu unterstützen. Weiterhin muss man die Betroffenen bei der Recherche und dem Auffinden eines Behandlungsplatzes unterstützen. Wenn diese Punkte gleichsam als „Zwischeninstanz“ großflächig umgesetzt und bereitgestellt werden, kann man den stark gestiegenen Bedarf an Psychotherapien deutlich reduzieren. Die Folgen der Pandemie auf die psychische Verfassung der Bevölkerung sind also schon jetzt deutlich mess- und spürbar, und verlangen nach weit substantielleren, strukturellen Lösungen als es die einfache Vermehrung psychotherapeutischer Praxen leisten könnte.

 

Literatur

TK Gesundheitsreport 2021: https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/gesundheitsreport-2021-2108392

Report Psychotherapie 2020: https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/informationen/verbandspublikationen/report-psychotherapie/

Kunzler et al. :Mental burden and its risk and protective factors during the early phase of the SARS-CoV-2 pandemic: systematic review and meta-analyses. Globalization and Health (2021) 17:34.

https://doi.org/10.1186/s12992-021-00670-y

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